Vom Blatt Papier bis zur Waschmaschine ist alles genormt. Dass auch das Bauen gute Regeln benötigt, ist unbestritten. Doch nicht alle Normen werden gleichermassen geschätzt. Bei vielen Architekten wenig beliebt ist die Norm SIA 500 «Hindernisfreie Bauten». Zu Unrecht.
«Bevor Sie sich ans Entwerfen eines Gebäudes machen, müssen Sie zuerst einmal alle Normen über Bord werfen.» Dieser vermeintlich rebellische Ratschlag gibt ein Architekturprofessor der ETH Zürich den Besuchern seiner Vorlesung. Eine erstaunliche Empfehlung von jemandem, von dem erwartet wird, dass er den Studenten die anerkannten Regeln der Baukunde des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA) vermittelt. Man ahnt natürlich den Hintergedanken dieses Statements: gute Architektur kann nur entstehen, wenn sie sich an keine Normen hält. Oder umgekehrt: normierte Architektur kann nur langweilig sein. Für Architekten gibt es vermutlich kein vernichtenderes Urteil, als dass ihre Bauwerke normal oder durchschnittlich sind.
Kritik an Normen ist beliebt
Das Schlechtreden von Normen ist in Zeiten des grenzenlosen Individualismus längst Common Sense. Auch EU-Gegner greifen in ihrer Argumentation gerne auf Normen zurück. So wollen sie beweisen, dass das wichtigste Ziel der EU die durchgängige Normierung sämtlicher Lebensbereiche sei. Selbst die Herstellung einer neapolitanischen Pizza werde in der EU normiert, wie dies Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher kürzlich in einer Rede behauptete. Es gibt zwar tatsächlich eine EU-Verordnung zur Herstellung einer Pizza Napoletana. Hier ein kurzer Auszug: «Die Pizza ist insgesamt weich und elastisch und lässt sich leicht wie ein Buch zusammenklappen. Mit einer Bewegung von der Mitte nach aussen und dem Druck der Finger beider Hände auf die Teigkugel, die mehrfach gewendet wird, formt der Pizzabäcker eine Teigscheibe, die in der Mitte nicht dicker als 0,4 cm ist. Mit einer spiralförmigen Bewegung wird die Tomatenmasse auf der ganzen Innenfläche verteilt.» Geschrieben haben das insgesamt neunseitige Pizzarezept aber nicht etwa EU-Beamte, sondern Mitglieder des italienischen Vereins der echten neapolitanischen Pizza. Und daran halten muss sich auch nur, wer seine Pizza Napoletana mit dem Label «Garantiert traditionelle Spezialität» auszeichnen will. Ansonsten kann jeder und jede seine Pizza machen und nennen, wie er will. Schweizweit, EU-weit, weltweit. Da kann man eigentlich nicht viel dagegen haben.
Ein Lob der unbeliebten Norm SIA 500 Hindernisfreie Bauten
Es gibt viele Gründe, die für das Einhalten von Normen sprechen: effizientere Prozesse, bessere und sicherere Produkte und nicht zuletzt Rechtssicherheit. Die Einhaltung einer Norm ist grundsätzlich nicht verpflichtend. In einigen Gesetzen wird allerdings auf Normen verwiesen. Um die Gesetze einzuhalten, kann es dann empfehlenswert oder sogar verpflichtend sein, diese zu erfüllen. Die Norm SIA 500 «Hindernisfreie Bauten» ist seit 2009 in Kraft und für Bauten massgeblich, für welche hindernisfreies oder behindertengerechtes Bauen von Bund, Kanton, Gemeinde oder Bauherrschaft vorgeschrieben ist. Dank dieser Norm sind heute viele Gebäude in der Schweiz stufen- und schwellenlos zugänglich. Die Norm SIA 500 trägt zur Gleichstellung aller Menschen bei. Dieses Grundrecht ist seit 2004 mit dem Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in der Bundesverfassung festgelegt. Bei vielen Architekten ist die Norm hingegen immer noch wenig beliebt. Schon bei ihrer Einführung im Jahr 2009 wurde befürchtet, dass sie den Gestaltungsspielraum stark einschränken würde. Kaum zu glauben, dass sich viele Architekten mit dem Postulat, dass der gebaute Lebensraum allen Menschen offenstehen soll, dermassen schwertun. Wie muss man sich das konkret vorstellen? Nehmen wir als Beispiel die Forderung der Norm, Türen und Durchgänge vorzugsweise ohne Absätze auszubilden. Sitzt der Architekt dann vor der Norm und sagt sich: «Ich lasse mir von einer Norm nicht vorschreiben, wie hoch ich die Schwellen zu machen habe?» Wie im berühmten Loriot-Sketch «Szenen einer Ehe», in welchem sich der Ehemann von einem kaputten Fernseher nicht vorschreiben lässt, wann er ins Bett zu gehen hat?
Wichtige Grundlage für das LEA-Label
Dass die Norm dermassen unbeliebt ist, hat vermutlich auch historische Gründe. Bei ihrer Vernehmlassung mussten gegen 1’000 Vorstösse von Interessenvertretern aus Politik, Wirtschaft und Behindertenwesen berücksichtigt werden. Die Norm SIA 500 mag in der Tat an einigen Stellen verbesserungsfähig sein. Doch sie ist nach wie vor das grundlegende Regelwerk, das für die Erstellung von hindernisfreien Bauten herangezogen werden sollte. Sie ist auch eine wesentliche Grundlage für das LEA-Label für hindernisfreie und altersgerechte Wohnungen. Und wie eine Pizza Napoletana nur dann als «garantiert traditionelle Spezialität» bezeichnet werden darf, wenn sie gemäss des oben erwähnten Pizzarezepts hergestellt wird, darf eine LEA-zertifizierte Wohnung nur dann als hindernisfrei bezeichnet werden, wenn sie sämtliche Anforderungen dieser Norm erfüllt. Dem eingangs erwähnten Professor möchte man indessen nahelegen, seinen Studenten in Zukunft zu raten, vor jedem ersten Entwurf sich zuerst einmal eingehend mit den Normen auseinanderzusetzen. Wahre Meister ihres Faches zeichnet nämlich aus, dass sie den Spielraum in den Normen nutzen und so ihrer Kreativität Ausdruck verleihen.
Andreas Huber, Geschäftsführer Verein LEA